„Der Schwächere verliert?“ Einsatzbericht der Niederösterreicherin Dagmar Kliegl

Dank den Schülerinnen und Schülern der Volkschule Scheffau konnten Spenden für die Eroret Preparatory School in Kenia gesammelt werden.

„Als ich in Kalkutta angekommen bin und kurz davor war, meinen ersten Arbeitstag zu bestreiten, war es eine Mischung aus neugieriger Aufregung und einem beruhigenden Gefühl einer gewissen Routiniertheit, dachte ich, da es ja nicht mein erster Einsatz war.

Viele Fragen, die mich vor meinem ersten Einsatz noch stark verunsichert haben, stellten sich mir nicht mehr. Nach einem Ersteinsatz – so dachte ich – hat man einfach schon das Gröbste hinter sich, man weiß, was auf einen zukommt, man weiß womit man konfrontiert sein wird – so ungefähr…

Und dann war Howrah, die arme Schwesternstadt Kalkuttas. Hier sollte alles anders sein. Ich wusste, dass in Indien eine völlig andere Mentalität und Kultur herrscht, als auf den Philippinen, oder anderen Einsatzorten der German Doctors Projekte, natürlich konnte ich mir das bevor ich in medias res war nicht im Entferntesten vorstellen.

Auch in Howrah starten die Ambulanz Tage erst einmal mit einer Autofahrt –  an drei Tagen in der Woche geht es in ein nahe gelegenes ausgedientes Fabrikgebäude in der „Forshore road“, an  zwei Tagen mit dem Zug nach Chengail, eine Ortschaft außerhalb der Stadtgrenzen, in eine ländlichere Gegend. Ein zweites Team fährt andere Ambulanzen an. Die Fahrt dauert zwischen 20 Minuten und einer Stunde, je nach Verkehrslage.

Kalkuttas Verkehr – Spiegelung der Demografie?


Wenn ich den Verkehr beobachte, habe ich plötzlich das Gefühl, hier spiegelt sich in gewisser Weise die Demografie wider. Dicht gedrängt fahren die Autos zu mehrt in einer „Spur“, wenn man überhaupt von einer Spur reden kann, überholen, mal links, mal rechts, ungeachtet eines Bremsweges, ungeachtet des Gegenverkehrs, ungeachtet der kleineren und schwächeren Verkehrsteilnehmer, Fußgänger, Radfahrer, da sind auch Fahrzeuge, für die ich keine Namen finde… so etwas wie ein Fahrrad, nur mit großer Ladefläche hinten – Mischung aus Pick-up und Fahrrad? Dasselbe ohne Kette und Tretfunktion, nur mit einem Menschen als Zugesel vorne. 5km/h, wenn das Werkl einmal rennt – sicher nicht leicht zu stoppen, auszuweichen, und anzufahren. Geschickt sind sie, von Sicherheitsabstand nix zu sehen, mit meinen notärztlich geschulten Augen sehe ich nur, was da alles passieren könnte!

Spannend zu beobachten, wie „einfach“ die Dinge hier auch gehen können… der Schwächere verliert. Ein permanente Schwäche scheint ununterbrochen da zu sein. Im Verkehr, in den Menschen. Ich weiß doch bereits, dass in Entwicklungsländern andere Regeln herrschen, dass scheinbar banale Krankheiten die Existenzen hier strecken. Krankheiten die für unsereins durch den selbstverständlichen Gang zum Doktor niemals zu einem Problem werden können…

Später Arztbesuch mit fatalen Folgen


So wie ein etwa 30-jähriger Patient, der in meiner zweiten Einsatzwoche erscheint, da er unerträgliche Schmerzen nach einer Verletzung am Fuß hat, seit 5 Tagen spürt er seine Zehen nicht mehr. Als ich den Verband entferne erschrecke ich selbst, damit habe ich nicht gerechnet. Das Gewebe ist so weit zerstört dass er einen Teil des Fußes verlieren wird. Von einer Verletzung aus der Kindheit fehlt ihm schon die linke Hand. Damit dürfte er gut zurechtkommen.

Warum er nicht eher gekommen ist, fragt man sich. Man hätte das doch… besser behandeln können, früher sehen müssen… „seine eigene Schuld“ würde man sagen, wenn man nicht ahnen würde, dass es einen Grund geben muss, der die Menschen dazu treibt, ihr eigenes Leid, ihre eigenen Missempfindungen so zu ignorieren, hinten anzustellen, vielleicht aus einer Angst, die Familie nicht ernähren zu können, wenn man nicht bei der Arbeit erscheint, vielleicht aus der Erfahrung heraus, mit welchen Zurückweisungen man rechnen muss, wenn man ein staatliches Krankenhaus aufsucht als Patient ohne finanzielle Mittel.

Zweifellos Umstände, die meinen Kopf ganz schön fordern, sich das vorzustellen.“

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